Frauengeschichte der frühen Gewerkschaftsbewegung

: "Frau Berlin" – Paula Thiede (1870–1919). Vom Arbeiterkind zur Gewerkschaftsvorsitzenden. Konstanz 2019 : UVK Verlag, ISBN 978-3-86764-905-6 228 S. € 17,00

: Feminismus in der frühen Gewerkschaftsbewegung (1890–1914). Die Strategien der Buchdruckerei-HilfsarbeiterInnen um Paula Thiede. Bielefeld 2021 : Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis, ISBN 978-3-8376-5922-1 214 S. € 14,99

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alicia Gorny, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Die Behauptung, dass Frauen nur schwer für gewerkschaftliche Arbeit zu gewinnen seien, ist nur geringfügig älter als die tradierte und axiomatische Übernahme dieses Vorurteils in die deutsche Gewerkschaftsgeschichtsschreibung. Sowohl Zeitgenoss:innen als auch Historiker:innen, Sozialwissenschaftler:innen und Geschlechterforscher:innen, um nur einige zu nennen, haben immer wieder auf diese Diskrepanz hingewiesen. Beispielhaft sei hier nur auf Gisela Losseff-Tillmanns verwiesen, die bereits 1982 mit Rückgriff auf Biografien von Gewerkschafterinnen der Jahrhundertwende vom 19. auf das 20. Jahrhundert feststellte: „Obwohl nachweislich engagierte Sozialistinnen und Gewerkschafterinnen zahlreiche organisatorische Agitationsarbeit zur Gewinnung weiblicher Mitglieder für die Berufsverbände leisteten, hält sich das Vorurteil der 'Unorganisationsfähigkeit der Frau', ihrem 'gewerkschaftlichen Desinteresse'.“1

Darüber hinaus verharrt die deutsche Gewerkschaftsgeschichte, wie durch Kathleen Canning bereits 1993 eindrücklich kritisiert, noch immer im konzeptionellen Rahmen der Klassenbildung und versperrt sich dadurch einer Erweiterung durch die Kategorie Geschlecht, wodurch Frauen immer noch in eine klassenlose Sphäre verwiesen werden.2 Dass sich daran in nahezu dreißig Jahren nur wenig verändert hat, unterstrichen in jüngster Zeit auch die Abschlussempfehlungen der von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Kommission „Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie“, die der Erinnerungslandschaft und der Geschichte der Arbeiterbewegung einen zu engen Zuschnitt auf einen männlichen Fokus attestierte, der zur Folge hat, dass „die Existenz von Frauen, nicht-binären und queeren Personen in der Geschichte […] dadurch überdeckt“ wird.3

Aus eben jenen Gründen sind die von Uwe Fuhrmann verfasste Biografie „Frau Berlin – Vom Arbeiterkind zur Gewerkschaftsvorsitzenden“ und die ebenfalls von ihm stammende Monografie „Feminismus in der frühen Gewerkschaftsbewegung (1890–1914)“ als wichtige Zeugnisse für weibliches Engagement in Gewerkschaften zu betrachten. Zentrale Leitfigur stellt in beiden Publikationen die Gewerkschaftsvorsitzende Paula Thiede dar, die der Gewerkschaft der Buchdruckerei-Hilfsarbeiterinnen von 1898 bis zu ihrem Tod 1919 vorstand. Neben dieser außergewöhnlichen Position innerhalb der jungen Arbeiterbewegung bildet Thiede für Fuhrmann zudem einen Konnex zwischen „dem Aufstieg der Arbeiterbewegung, den ersten Aufbrüchen der Frauenemanzipation und schließlich [mit] einer ‘Geschichte von unten’ der Stadt Berlin“ (Frau Berlin, S. 9). Ohne Zweifel ist ihm damit ein beeindruckendes Zeugnis weiblicher Gewerkschaftsarbeit gelungen, das zudem eine Sonde darstellt, um sich einem weiblichen politisch aktiven Netzwerk des Kaiserreiches anzunähern, das neben Paula Thiede noch weitere namenhafte Vertreterinnen der Frauenbewegung wie Clara Zetkin, Ida Altmann oder Gertrud Hanna versammelte. Dessen Funktionsweise und fast schon verworrene Verwobenheit wird vor allem in Fuhrmanns Thiede-Biografie eindrücklich beleuchtet (Frau Berlin, S. 119–130) und verdeutlicht die Wichtigkeit informeller feministischer Vernetzung.

Darüber hinaus gelingt es Fuhrmann eindrücklich, die Schwierigkeiten aufzuzeigen, die für Frauen aus der Doppel- bzw. Dreifachbelastung von Arbeit, Care Work und politischem Engagement erwuchsen (und noch immer erwachsen). Im Zentrum steht dabei die Analyse von Arbeitsnachweisen (Arbeitsvermittlung), die sich die Gewerkschaft der Buchdruckerei-Hilfsarbeiterinnen aneignete, um ihre Forderungen gegenüber Fabrikbesitzern durchzusetzen. In besonderer Weise wird damit ein weibliches Kampfmittel sichtbar, das die Grenzen im patriarchalen System des Kaiserreiches aufzeigt, die ihren Ursprung in spezifisch weiblichen Lebensumständen haben (Feminismus, S. 81f.). Diese Erkenntnis stammt jedoch nicht von Fuhrmann allein, sondern findet sich bereits in den Argumentationen der Gewerkschafterinnen, deren Agenda von der Gleichstellung der Geschlechter geprägt war.

Aus diesem Grund betont Fuhrmann immer wieder die Einzigartigkeit der Gewerkschaft der Buchdruckerei-Hilfsarbeiterinnen und verweist in diesem Zusammenhang auch auf die außergewöhnlich hohe Beteiligung von Frauen am Streikgeschehen, die alle übrigen Verbände überboten haben soll. Wenn auch die Beteiligung von Frauen in der Gewerkschaft sicher bemerkenswert war, so ist diese Aussage doch mit Vorsicht zu genießen, da Fuhrmann sich hier lediglich auf eine zeitgenössische Quelle (Lilly, Hauff4) stützt und zum anderen den gegenwärtigen Diskurs um weibliche Streikpartizipation übersieht, der vornehmlich von Gisela Notz und Ingrid Artus angestoßen wurde.5 Darin wird vor allem die Verwendung des Maskulinums als neutrale Form kritisiert, da diese weibliche Streikbeteiligung verschleiere. So geht Gisela Notz für den Streik in Crimmitschau (1903/04) von einer weiblichen Beteiligung von mehr als 80 Prozent aus.6

Hervorgetan hat sich die Gewerkschaft der Buchdruckerei-Hilfsarbeiterinnen allerdings gegenüber anderen Gewerkschaften durch Aktionen, die anhand von Gleichheits- und Ungleichheitsfaktoren die Partizipation weiblicher Gewerkschaftsmitglieder begünstigen sollten. Diese hat Fuhrmann anschaulich herausgearbeitet und stellt darin den Einsatz gestaffelter geschlechtsneutraler Beiträge, Wöcherinnenunterstützung und die Möglichkeit einer ruhenden Mitgliedschaft als zentrale und zu damaliger Zeit einmalige Werkzeuge der Gewerkschaft vor, die „das Erfahrungswissen um die ‘doppelten Pflichten der Frauen’ […] in die Praxis überführt“ (Feminismus, S. 110).

Methodisch greift Fuhrmann dabei auf Laurie Penny zurück, die Feminismus als Handlungskonzept und damit als Praxis versteht, was für ihn den Feminismusbegriff epochenübergreifend verwendbar macht. Dieser Zugang erweist sich dann auch in beiden Publikationen als äußerst bereichernd und wird von Fuhrmann an plausiblen Beispielen verdeutlicht. Darüber hinaus verwendet er in beiden Publikationen mit der Analyse von Ungleichkonstruktionen, die sich durch das Zusammenspiel der Kategorien Klasse und Geschlecht ergeben, einen intersektionalen Zugang. Hier liegt allerdings zugleich die Schwäche beider Publikationen, die methodisch gerne mehr unterfüttert hätten sein dürfen. So wird zwar immer wieder auf die sich ergebenden Machtverhältnisse aufgrund von Klasse und Geschlecht verwiesen. Andere Kategorien, wie etwa Familienstand, Religion oder Milieu, bleiben jedoch außen vor. Dies ist möglicherweise damit zu begründen, dass Fuhrmann selbst kein Geschlechterforscher ist und sich hier einem für ihn neuen Feld annäherte. Gerne hätte die methodische Vorbereitung jedoch intensiviert werden und auch die Begründerin dieser Theorie, Kimberlé Crenshaw, benannt werden dürfen. Gleiches gilt für die von ihm in der Monografie „Feminismus in der frühen Gewerkschaftsbewegung (1890–1914)“ angekündigte Dispositivanalyse, die nach einmaliger Nennung (Feminismus, S. 18) ebenso unbeachtet bleibt wie ihr Urheber Michel Foucault.

Aufgrund dieser Ausbaufähigkeit in Bezug auf Methodik erscheinen beide Publikationen zum Teil leider sehr deskriptiv und die Biografie „’Frau Berlin’ – Paula Thiede (1870–1919). Vom Arbeiterkind zur Gewerkschaftsvorsitzenden“ teilweise stark emotional aufgeladen, wenn die Lebensumstände Paula Thiedes geschildert werden. So wurden beispielhafte Auszüge aus zeitgenössischen Schilderungen des Berlins um die Jahrhundertwende gewiss verwendet, um für einen atmosphärischen Zugang zu sorgen. Allerdings erwecken sie gepaart mit den Beschreibungen der Lebensumstände Thiedes den Eindruck, dass eine wissenschaftliche Distanz nicht immer gegeben war. Dieses Vorgehen ist vermutlich zum einen dem Zuschnitt der Biografie auf einen historisch-interessierten Leser:innenkreis geschuldet, der die Verwendung von Fachtermini weitestgehend vermeidet. Zum anderen trug möglicherweise die von Fuhrmann immer wieder betonte schwierige Quellenlage dazu bei, bei einem deskriptiven Zugang zu verbleiben. Aus eben diesem Grund verharren die von Fuhrmann in der Monografie „Feminismus in der frühen Gewerkschaftsbewegung (1890–1914)“ vorgestellten Wegbegleiterinnen Thiedes (S. 146–158) leider ebenfalls im Bereich des Deskriptiven, wecken aber auch den Wunsch, mehr über diese Frauen zu erfahren und die hier aufgezeigten Desiderate zu schließen. Hier könnte sich, ebenso wie in den hier besprochenen Publikationen, ein methodischer Rückgriff, beispielsweise auf die feministische Netzwerktheorie oder die Partizipationsforschung, als sehr bereichernd erweisen.

Ein solches Vorgehen würde möglicherweise auch zu einem intensiveren Brückenschlag zur Gegenwart führen, da viele Schwierigkeiten der frühen Feminist:innen auch heute noch eine erschreckende Aktualität aufweisen, die gerne öfter sichtbar gemacht hätte werden können. Dies zeigt sich beispielsweise anhand des Diskurses, den Fuhrmann in der Thiede-Biografie anhand der Kategorie Kinderlosigkeit aufmacht (Frau Berlin, S. 67–78), ganz deutlich. Vor allem und gerade wegen des Gegenwartsbezuges zeigt sich noch einmal deutlich, welche Wichtigkeit in beiden Publikationen liegt: Zum einen wird mit der Person Paula Thiede ein Zeugnis für ein außergewöhnliches weibliches politisches Engagement abgelegt und zum anderen zeigt sich dadurch ein frühes feministisches Aufbegehren, dessen Bedeutung in Anbetracht der dominierenden männlichen Narrative und Gewerkschaftsbiografien nicht zu hoch bewertet werden kann.

Anmerkungen:
1 Gisela Loseff-Tillmanns, Frau und Gewerkschaft, Frankfurt am Main 1982, S. 6.
2 Kathleen Canning, Geschlecht als Ordnungsprinzip. Überlegungen zur Historiographie der deutschen Arbeiterbewegung, in: Hanna Schissler (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse im Wandel, Frankfurt am Main 1993, S. 139–163, bes. S. 145.
3 Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie, Abschlussempfehlungen, Düsseldorf 2021, S. 7.
4 Lilly Hauff, Die deutsche Arbeiterinnen-Organisation, Halle an der Saale 1912.
5 Ingrid Artus u.a. (Hrsg.), Arbeitskonflikte sind Geschlechterkämpfe. Sozialwissenschaftliche und historische Perspektiven, Münster 2020.
6 Gisela Notz, Die Geschichte von Frauenstreiks und streikenden Frauen. „das vierte 'K' heißt Kampf“, in: Ingrid Artus u.a. (Hrsg.), Arbeitskonflikte sind Geschlechterkämpfe. Sozialwissenschaftliche und historische Perspektiven, Münster 2020, S. 28–49, bes. S. 33f.

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